Ich hab das Gefühl, dass in unserer schnelllebigen Welt ist immer weniger Platz ist Gefühle, Zustände und Übergangsphasen einfach mal da sein zu lassen. Ratschläge wie „Lass einfach los,“ oder „Du musst da mal drüber hinwegkommen.“ sind ungefähr so hilfreich wie jemanden im Regen zu sagen, er hätte mal seinen Regenschirm mitnehmen sollen. Ganz nach dem Motto als ob wir da nicht selber draufkommen würden. Danke. Statt dir irgendeinen Rat zu geben, würde ich den Spieß gerne umdrehen und dir so einfach und herzlich wie mir möglich erklären, warum manche Dinge einfach Zeit brauchen und warum ich Menschen auf dem Weg etwas zu verarbeiten mit dem Schreiben eines eigenen Lieds gerne unterstütze.
Eine psychologische und musikalische Bahnfahrt in 3 Akten
Ich präsentiere feierlich und stolz „das Rahmen-Spiegel-Märchen“!
„Rahmen-Spiegel-Märchen? Was hat sich Hannah jetzt schon wieder ausgedacht?“ Tatsächlich lese ich dir heute kein Märchen vor in dem ein Spiegel oder ein Rahmen vorkommt. Stattdessen möchte ich dir aus psychologischer Sicht erzählen, warum Lieder schreiben (für mich) so hilfreich ist, um schöne und als auch nicht-so-schöne Erlebnisse zu verarbeiten. Das Rahmen-Spiegel-Märchen fasst folgende Komponenten zusammen: Wir brauchen einen zeitlichen Rahmen, ’nen sicheren Spiegel und last but not least ein handlungsfähiges Märchen. Du verstehst nur Bahnhof? Prima – dann spring mit auf den Psychologie-Zug, den ich mir aus meiner persönlichen Erfahrung und meinem Studium zusammengebastelt habe. Heute im ersten Teil schauen wir uns den zeitlichen Rahmen an
Station 1: Der zeitliche Rahmen
Wenn uns etwas lange beschäftigt – wir also immer wieder daran denken oder passende Gefühle dazu haben – dann muss da ja wohl irgendwas mit unserem Gehirn zu tun haben. „You don’t say, Sherlock.“, denkst du dir. „Und die soll wirklich Psychologie studiert haben?“ Tatsächlich ja (auch wenn’s paar Anläufe gebraucht hat). Ich will dich nicht mit öden Fachbegriffen belästigen – deswegen ganz bewusst simple erklärt. Wie lange wir brauchen, um ein Erlebnis oder Erfahrung zu verarbeiten, hängt von mehreren Faktoren ab, z.B.
- die Dauer, Häufigkeit und Intensität der Erfahrung
- wie handlungsfähig man in der Situation agieren konnte
- ob ein Einordnen des Erlebten geschehen konnte
- wie stabil und gefestigt man generell zu dem Zeitpunkt war
- welche Ressourcen danach auf einen warteten
- und noch zigtausend andere Faktoren.
Und je intensiver, ungewohnter oder bedrohlicher diese Erfahrung für unser persönliches Sicherheitserleben war, desto mehr Zeit braucht unser Gehirn es (zeitlich) einzuordnen.
Wenn unser Gehirn zu viel mit dem Kalender zu tun hat
Nett formuliert kann man sagen, dass das Gehirn in sehr überwältigenden Situation zu sehr mit anderen Sachen beschäftigt war (z.B. uns sicher zu halten, eine angemessen Reaktion zu finden, uns zu beschützen, ect.), dass keine Zeit mehr war auch noch den inneren Kalender auf dem aktuellen Stand zu halten. Wie auf einem Schreibtisch wo sich manchmal viel Papier angehäuft hat, weil wir zu viel andere Dinge zu tun hatten, muss dann auch unser Gehirn das Erlebnis Papierstück für Papierstück verarbeiten. Bei unserem emotionalen System kann es durch die noch fehlende Verbuchung unseres Gehirns dann eine Weile dauern bis die Erfahrung verarbeitet ist.
Manche Dingen brauchen natürlich einfach Zeit. Nehmen wir an du hast eine Trennung hinter dir und Liebeskummer. Da ist es ja ganz natürlich, dass dich das beschäftigt und dich erst einmal an die neue Situation gewöhnen bzw. von der Beziehung entwöhnen musst. Das klingt ziemlich unromantisch, aber wenn sich etwas im Leben verändert, durch z.B. eine Trennung, einen Umzug oder einen neuen Job, werden wir damit konfrontiert, dass wir Gewohnheitstiere sind. Und alles was wir mit dem Alten verbinden, muss erst einmal entwöhnt bzw. mit neuen Gewohnheiten wieder gefüllt werden.
Die Umgewöhnungs- und Verarbeitungsphase, kann sich ungefähr so anfühlen:
Wenn das Alte nicht mehr greift, und das Neue noch Zeit braucht und reift,
Und du so dazwischen stehst und nicht weißt wohin es geht,
Ja, so fühlt sich Abschließen und Neuanfang im selben Moment an.
Wo kommt die Musik ins Spiel?
Ganz einfach. Ein Lied hat ein Anfang und ein Ende. Es beginnt mit Musik und endet in der Stille. Hier gibt es also ganz klar einen zeitlichen Rahmen.
Mir ist aufgefallen, dass Lieder zu schreiben (neben vielen anderen Dingen) eine Sache war, die mich unterstützt hat dem Erlebten eben diesen Rahmen zu geben, der sonst fehlte. Oft war es so, dass es mich noch geschüttelt hat und ich weiterhin mit starken Emotionen konfrontiert wurde (mehr dazu im nächsten Blogartikel). Aber ich hab dann immer häufiger die Erfahrung gemacht: „Meine Emotionen zu diesem Erlebnis haben in diesem Lied 3 Minuten ihren Platz und danach ist es zu Ende. Ich kann zurückkommen und es wieder spielen, aber ich kann auch zu einem anderen Lied weitergehen oder danach die Gitarre beiseite stellen und dann mit etwas anderem weitermachen.“ Ich konnte in kleinen Schritten also die Erfahrung machen „Da ist ein Ende. Jetzt ist es vorbei. Und mein Leben geht weiter.“
Chancen und Grenzen ein Lied für dich zu schreiben
In dieser kleinen Psychologiestunde mit persönlichen Erfahrungsbericht geht es nicht darum zu sagen: „Musik löst über Nacht all deine Probleme“. Vielmehr kann Musik ein Stück Leichtigkeit in das eigene Leben und in die Schwere von herausfordernden Erfahrungen bringen und so zu einem Anker werden (das wird ja gerne auch Ressource genannt *Professoren-Brille-an*). Ich möchte den Bezug zeigen, warum wir manchmal sehr intensiv über Vergangenes fühlen und wir unfreiwillig immer wieder darüber nachdenken. Das hängt nicht mit Willensschwäche zusammen, sondern dass unser Gehirn Zeit braucht es zu verarbeiten. Dem Ganzen in einem Lied einen Rahmen zu geben, kann helfen Dinge zu verarbeiten und uns dabei unterstützen ein Stückchen davon zu lösen – eben weil das Erlebnis dann einen festen Platz hat und wir es selber dann nicht im Kopf hin und her schieben müssen. Das ist die Chance davon ein Lied darüber zu schreiben und die anderen beiden Stationen (sicherer Spiegel und handlungsfähiges Märchen) schauen wir uns bald in den nächsten Blogartikeln an.
Die Grenze ein Lied zu schreiben liegt klar bei traumatischen Erlebnissen – bei diesen braucht das Gehirn nicht nur einfach Zeit etwas zu verarbeiten, weil sich bei traumatischen Erlebnissen die Gehirnstrukturen verändern und so das Erlebnis von allein nicht richtig verarbeitet werden kann. Hier braucht es professionelle Unterstützung, denn anders wie bei dem Papierstapel, den das Gehirn „von selber verarbeitet“, kommen hier die Erinnerungen überwältigend und unfreiwillig als Fragmente, Flashbacks oder auch dissoziative Zustände hoch. An dieser Stelle würde ich statt einem Lied liebevoll empfehlen einen Therapeuten mit Schwerpunkt Trauma aufzusuchen.
Wie es weiter geht
Mit unseren beiden weiteren Blogartikeln zu dieser kleinen Reihe. Die folgen schon ganz bald und werde ich dann hier verlinken bzw. in der Wunderpost bekannt geben 🙂 Ich freue mich drauf!
Und liebend gern schreibe ich ein Lied für dich, um mit dir deiner Geschichte eine Stimme zu geben. Mehr Infos findest du hier.